Abwärts leben – Leseprobe 3

Auszug aus:

… wie ein Engel des Friedens

[…]
Eine Woche nach dem Umzug gab es die große Einweihungsfeier. Die halbe Verwandtschaft war eingeladen.
Die Feier ließ sich gesittet und geziemt mit Kaffee und Kuchen an. Jeder saß an seinem Platz: Meine Mutter bot in schöner Runde, in adretter Förmlichkeit und so recht wie in einer Bewirtung, ihre hübsche und mit Anstand zelebrierte Kaffeetafel. Danach löste sich die Tischordnung auf, die Gesellschaft wurde feucht-fröhlich und ausgelassen. Ein deftiges Abendessen steigerte endlich den Durst und befeuerte das hemmungslose Besäufnis einiger Herren. Mein Vater: einer von ihnen.
Der jüngste Bruder meiner Mutter, eine trinkfeste Frohnatur und hemmungslose Unterhaltungskanone, mimte den Alleinunterhalter und ersparte meiner Mutter mit derbem Humor keine Peinlichkeit. Als später auch noch die älteste Schwester meiner Mutter hinzu kam, lockerte die Runde auf, weil dem jecken Onkel nicht mehr die alleinige Aufmerksamkeit galt: Diese Schwester – gerade erst verwitwet – zog mit ihrem Bruder gleich und erlaubte sich keine Ladehemmung.
Die Erwachsenen waren dabei unter sich – ich hielt mich am Rande auf, um wenigstens keinen Kalauer zu versäumen. Ich hatte zwar meinen Spaß, aber es entging auch nicht meiner Aufmerksamkeit, dass mein Vater irgendwann stillschwei- gend seinen Rivalen gefunden hatte. Während mit steigendem Alkoholgehalt der geselligen Runde der Gehalt der Späße abnahm, kochte mein Vater unter der Maske des lachenden 100-Kilo-Brockens langsam auf…
Uneröffnet und niemals erklärt hatte er den Wettkampf aufgenommen mit dem jüngsten Bruder meiner Mutter, der – wahrhaftig trinkfest – ohne Maß und Anzahl alles in sich hineinkippte. Und während er als Kabarettist und Alleinunterhalter immer weiter aufdrehte, bekam er gar nicht mit, dass er meinem Vater zum gehetzten Hasen in einer absurden Jagd geworden war. Als meine Mutter – besorgt um die angemessene Fassung des Hausherrn und Gastgebers – irgendeine Bemerkung bei meinem Vater fallen ließ, die ich mir schon zusammenreimen konnte, da zogen die ersten Wolken, gallig-grün angelaufen, in schwerem Blaugrau am Horizont auf, von denen keiner der Gäste irgendetwas ahnte.
So allmählich verabschiedeten sich die Gäste. Ein unabgesprochener Konsenz unter den noch Geistesgegenwärtigen löste die Feier plötzlich auf, ehe bei einzelnen die Toleranzfähigkeit gegenüber Alkohol überschritten sein würde… So mancher nahm volltrunken Abschied. Der jüngste Bruder meiner Mutter hatte die größten Schwierigkeiten, die steile Treppe in der zugedachten Weise hinunter zu kommen. Aber auch der kam schließlich und irgendwie heil unten an. Die letzten Rücken waren fortgewunken, die Haustür fiel ins Schloss.
… und die Dämme brachen.
„Versager!“ „Schlappschwanz!!“ „Nichtsnutz!!“ Ach, was war ich nicht alles – aber nichts Brauchbares. Wie Granatsplitter – so fühlte es sich mir an – flog uns alles um die Ohren, was meinem Vater an Wohlbekanntem einfiel. Was hatte sich da nicht alles aufgestaut, was ja nun eindeutig auf meine Schlappe während des Umzugs zurückging?! Und das war eine Woche her!
Was muss es in ihm genagt und gefressen haben, eine Woche lang. An jenem Tage und eine ganze Woche lang hatte er kein Wort darüber verloren, keine Rage darüber ausgetobt. Und nun war ich… Ach was: Nun waren wir, meine Mutter genauso wie ich, wie vor den Kopf gestoßen ob dieses tosenden Gewitters, so heillos aus heiterem Himmel.
Wie mochte das Fraßbild aussehen in seinem Kopf? Mit ansehen zu müssen, wie seinem Sohn dieses lange, sperrige, nicht einmal so schwere Teil aus den Händen glitt, das für ihn wahrscheinlich nicht mehr gewesen wäre als eine dürre Zaunlatte. Mit anzusehen, wie ich wahrscheinlich mit irrwitzig entsetzter Fratze der Hilflosig- keit noch zu halten versucht hatte, was nicht mehr zu halten war. Sein Sohn? Der doch so gar nicht nach seiner Art geschlagen war. „Der ist nicht von mir!“ Dieses Mal sagte er es nicht. Ich hörte es dennoch abermals.
Neeein! Nicht mehr. Nicht mehr! Nicht mehr, nicht mehr!!
„Geh mir bloß aus den Augen!!“ Niedergeschlagen und gedemütigt – erleichtert, der Tobsucht nicht mehr beiwohnen zu müssen – zog ich ab! Nicht ohne die wahnhafte Regung der Dankbarkeit, von ihm fortgeschickt zu werden, schlich ich mit gesenktem Haupt, mit leisen Schritten, so unauffällig wie möglich die Treppe hinauf und legte mich zu Bett.
Das setzte meine Mutter der direkten und alleinigen Attacke aus. Und ich begriff, weshalb dieses Mal ich so schnell abziehen durfte, ja, abziehen musste von der Bühne seiner Tobsucht: „Was fällt Dir eigentlich ein?! Zu kontrollieren wie viel ich trinke!?“ Zufrieden ob meiner Erkenntnis – Fassungslosigkeit zollte ich meiner Mutter – war mir nun klar, was der wahre Auslöser seines unhaltbaren Zorns war.
Und die Kartoffeln hatten nicht geschmeckt, die Würstchen nicht gereicht. „Was sollen die denn denken?!“ brüllte er. – Na, dieser Durchgedrehte bedachte wohl am wenigsten, was andere denken! – „Dass wir es uns nicht leisten können?“ Und schmetterte in halber Lautstärke, die noch heftig genug war, hinterher: „Noch zu geizig, ein ordentliches Büffet auszurichten!“ Wand erschütternd legte er nach: „Ist das denn zu viel verlangt? Während hier alle hart geschufftet haben?! Wenigstens was Anständiges zu Essen zu machen!? Und dass es auch reicht! – Aber meckern! Nichts als meckern! – Eine richtige Meckerziege“, wurde die Nachbarschaft weithin informiert, „ist aus Dir geworden! Nichts als eine Meckerziege!“
Nicht minder laut dröhnte seine Forderung nach Essen: Speck und Ei sollte meine Mutter ihm in die Pfanne hauen – er sei ja noch gar nicht satt.
„Biiie-tte…“ unter Tränen, „aber so hör doch bii-ttee… mit dem Geschrei auf!“ Halb erstickt flehte meine Mutter und machte sich daran, ihm befehlstreu Essen zu bereiten. „Willst Du denn hier auch als der Schreihals dastehen?!“ – „Dummes Zeug!!“ – „… biiie-tteee…“ gurgelte sie unter Tränen, die so schnell nicht mehr zu schlucken waren, wie sie flossen. – „Wer sagt denn so was!?“ gebrüllt. – „Neeeiiin“, ein letztes, klägliches Wimmern, schmolz ihre Hoffnung dahin wie eine Kugel Vanilleeis unter der sengenden Mittagssonne eines wolkenlosen Sommertages: Ihre Hoffnung, hier einen Neuanfang machen zu können. Ihre Hoffnung, hier nicht mehr wissen zu müssen um das Gequatsche der Nachbarn, das ja nun einmal – aller Miefigkeit von Gerüchten und aller Widerlichkeit von Maulzerreißen zum Trotz – stimmte.
„Tu uns das doch nicht an…“ gluckste sie, kaum verständlich, tief in der von Tränen und Rotz verschleimten Kehle, undeutlich und leise, eigentlich nur noch für sie selbst, nur noch zu sich selbst… Worte, die sonst mir galten. – ? – Worte, mit denen sie nun ihren Ehemann meinte! Ängstlich, verunsichert, zaghaft hinein gesprochen in diesen schmalen Spalt, der sich auftat zwischen der blassen Hoffnung, doch erhöhrt zu werden von ihrem Mann – und der fetten Furcht, doch bloß nicht gehört zu werden im jähen Zorn des Tyrannen.
Er hatte es gehört. Sein Zorn brandete wieder auf.
Von einem Haus ins andere gezogen – das Irrenhaus nahmen wir mit. Ein Irren- haus, abgeschirmt von der „normalen“ Gesellschaft, verrammelt, verriegelt, den Blicken entzogen, um den Bürger nicht zu verunsichern. Und wir? Waren verschreckt, verstockt, verstummt. Für jeden hörbar, jeder bekam es mit. Und wir? Lebten mitten drin: im Irrenhaus.
Der Wahn-Sinn tobte sich weiter aus, bahnte sich seine klaffende Furche durch den brüchigen Frieden dieser unserer seltsamen Familie. Wenigstens unser Wahn machte etwas Sinn – in dieser Schreckensherrschaft.
Unter halb trockenen Tränen, hilflosem Schluchzen und knabenhaftem Wimmern und Jammern verharrte ich auf meinem Zimmer. Ich horchte nicht dem Toben des Tyrannen. Ich horchte nicht dem Wehklagen der hilflosen Mütterlichkeit und zerbrochenen Weiblichkeit. Sondern es mochte mir gar nicht gelingen, all das nicht zu hören, was mich nun angeblich nichts anging. – Geflohen wäre ich am liebsten: Ich, nur ich allein, zurück in die alte Wohnung.
Nichts hatte sich geändert. Die Zäsur des Wohnungswechsels, die ich schon jetzt hasste, weil sie nichts bewirkt hatte. Eisenbahn weg, Hoffnung weg. Den Preis vorab gezahlt – und nichts dafür bekommen. Die teuerste Vase in Scherben war nichts dagegen: unbedeutend, gering, klein – nicht mehr erwähnenswert.
Als hätte es irgendetwas ändern können, so machte ich mir vor, meine Mutter mit diesem Schrecken nicht allein lassen zu können. Held, der ich war, suchte ich nicht mehr selbst den Schutz am Rockzipfel meiner Mutter, sondern suchte nach Solidarität. Held, der ich war: Was konnte ich tun für meine Mutter? War ich doch selbst diesem Vater ausgeliefert wie Naturkatastrophen. Nicht zu gehen, wenigstens, konnte ich tun. Nicht zu gehen gelang mir so. – Zu gehen gelang mir gar nicht.
Die dumpfe Mattigkeit schließlich holte mich ab aus Tränen und überließ mich unruhigen Träumen…
Der daran anschließende Sonntag hielt für meine Mutter und mich das ganze Pro- gramm bereit: Von einer unliebsamen Überraschung über die gängige Banalität, mit der dazu gehörigen Zermürbung, bis hin zu einem Geschenk des Himmels…
Die unliebsame Überraschung kam mannhaft aufgebaut daher, mit etwas un- sicherem Stand, mit geröteten Augen, den Blick glasig, die Pupillen eng und träge. Die Reaktionen und Bewegungen dieser ganzen Männlichkeit – nur leicht, aber unübersehbar – unbeherrscht. Ehe er die Treppe zu uns herauf kam, fragte er meinen Vater mit knabenhaft ausgelassenem Lachen, wie er denn nur diese steile Treppe gestern abend heil hinunter gekommen sei:
Der jüngste Bruder meiner Mutter – gestern noch Grund zur Sorge, er könne dem Koma erliegen. Eben dieser erinnerte sich ganz genau, dass da gestern bei der Fete die zweite Flasche Mariacron nicht leer geworden war. Zwar der eigene Bruder – aber dennoch kein Wunder – kam der Kerl meiner Mutter höchst ungelegen. Ich durchlitt den Besuch in böser Vorahnung. Mein Vater bat ihn herzlich herein: Nicht ausge- nüchtert, aber hinreichend angenüchtert, um die Herausforderung anzunehmen.
Mit dem schlichten Ziel, jene Flasche Weinbrand leer zu bekommen, setzten sich die beiden ganzen Kerle im Wohnzimmer nieder und machten sich daran, dem harten Zeug den Rest zu geben. Der eine knabenhaft unbedarft am sinnlosen Besäufnis interessiert – der andere ein steifer Gockel, der heillos bemüht war, aus einem Wettstreit als Sieger hervorzugehen, den nur er allein stritt. Und weil Weinbrand wohl doch irgendwie recht trocken sein muss, kostete dieses merkwürdige Freundschaftsspiel im Gleichklang des Zuprostens auch noch vier Flaschen Bier.
Die Männer tranken miteinander und schwiegen miteinander. Das wenige, das sie austauschten, war belanglos und entbehrlich. Aber sie hoben – das verband sie in idyllischer Brüderlichkeit – seltsam synchron die Gläser…
Ich hielt mich vom Wohnzimmer fern. Die flüchtigen Blicke, die ich hineinge- worfen hatte, blieben hoffentlich unbemerkt. Ich verweilte die meiste Zeit auf meinem Zimmer, trollte mich später einmal zu meiner Mutter in die Küche, die unser Mittagessen zubereitete. Die wenigen Worte, die wir wechselten, waren bedeu- tungslos. Bedeutungsvoll waren die stummen Blicke, die wir kreuzten: bedeutungsvoll unsere Angst darin.
Als das Pensum erledigt, die Flasche geschafft war, zog mein Onkel ab, meine Mutter tischte das Essen auf… und das Unheil nahm erneut seinen Lauf.
Das aussichtslose Kräftemessen mit dem spielend Ebenbürtigen hatte meinen Vater heillos gereizt – nun, das Kräftemessen mit den aussichtslos Unterlegenen, brachte ihn in Rage. Ohne Grund und ohne Anlass, ohne Widerstand, an dem er sich reiben, ohne Kerben, in die er schlagen konnte, erfand sein Hirn im Wahn Gründe, die seine Raserei nährten.
„Die Suppe schmeckt ja wieder gar nicht.“ Noch grummelig und leise.
„Wo sind denn Deine einstigen Kochkünste geblieben? Du gibst Dir gar keine Mühe mehr!“ Schon gedonnert. – Und so nahm das Unheil wieder seinen gewohnten Lauf.
Der bloße Nachhall seiner Stimmgewalt war uns Drohung genug: Ich wagte nicht mich zu rühren, nur schweigsam zu essen. Nur ja den Blick des Vaters nicht kreuzen! Meine Mutter zitterte in ihrer Angst vor jedem nächsten Tun. Obgleich wir gewohnheitsmäßig wussten, dass es gerade erst begonnen hatte und jetzt auch grundlos weitergehen musste: Man lernt, grundlos zu hoffen.
„Und die Kartoffeln schmecken irgendwie ganz komisch!“
„Komisch“, dachte ich bei mir, „schmeckt vielleicht alles, wenn man so viel Hochprozentiges gesoffen hat.“
„Und das Fleisch ist viel zu zäh!!“ schnodderte er weiter.
Dann plötzlich in schmerzender Lautstärke: „Den Sau-Fraß kannst Du den Schweinen verfüttern!“ Angewidert schmatzend schlang die Fleisch gewordene Gewaltandrohung den bloßen Nährwert hinunter.
Hatte ich den mal vertrauensvoll „Papa“ genannt?
„Und Du!“ bellte dieses Monster mich an. „Hast Du Dein Zimmer aufgeräumt? Oder muss Deine Mutter wieder für Dich aufräumen!?“ Wieder? Was war das nun? Meine Mutter hatte noch nie für mich aufräumen müssen! Dachte ich nur. „Jaaah!“ maulte ich. „Hab ich.“ Scheißkerl, verdammter, dachte ich.
„Und? Was ist mit der Berufsschule!? Hast Du die Hausaufgaben gemacht?“ donnerte er mich an. Seit wann interessierte ihn das? Wenn das Ergebnis nicht stimmte, dann rastete er aus. Aber jemals auf dem Wege zum Ziel zu fragen, ob ich klar kam, ob ich Unterstützung brauchte, ob er würde helfen können: Niemals auch nur gedacht! „Ja‘-haa!“ nickte ich – zugegeben: unüberhorbar angenervt. Und erschrocken ob der eigenen Provokation schob ich schnell nach: „Hab ich alles fertig!“ – „Scheißkerl!!“ dachte ich.
„Kannst ja wenigstens vernünftig antworten, wenn Du ordentlich gefragt wirst!“ tobte er auch gleich. – „Ordentlich gefragt?“ schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, „hab ich nicht mitbekommen!“ – „Maul mich nicht so von der Seite an! Wofür hälst Du Dich eigentlich?! Bursche!!“
So ging die obligatorische dreiviertel Stunde um. Und auch wenn das Gewitter dann vorüber war: Als ich mich nachmittags mit dem Fahrrad aufmachte zu meiner Großmutter, da fühlte es sich gut an, der dicken Luft daheim zu entrinnen. So ganz beiläufig ließ sich so auch die Zeit bis zur Bescherung überbrücken, die uns erwartete. Es war nicht Weihnachten. Und ich ahnte noch nicht einmal etwas von dieser Bescherung…
Meiner Oma klagte ich unser Leid mit dem Haustyrannen. In aller Ausführlich- keit zeichnete ich die frischen Eindrücke von den gestrigen und heutigen Ausfällen meines Vaters nach. Geduldig hörte meine Großmutter zu – und konnte doch so wenig ausrichten wie ich selbst. „Hach, ja, mein Junge“, klagte meine Oma kraftlos, „ich kann ja nur auch gar nichts machen…“ Die Augenbrauen verzweifelt und hilflos hochgezogen, den Blick zu Boden gerichtet. „Ach, Oma“, seufzte ich bescheiden und nur nochresigniert, „ich bin ja schon froh, dass ich mal mit jemandem darüber sprechen kann!“
Und so endete mein Besuch bei der Oma so ergebnislos, wie das ganze Verharren unter den unberechenbaren Launen unseres ach so liebenswürdigen Familien- oberhauptes fruchtlos war. Dennoch hatte es erleichtert, dem Herzen mal für ein paar Momente diese Last des Schweigens, des stummen Schluckens, des starren Hinnehmens genommen zu haben.
Zeitig zum Abendbrot war ich wieder Heim.
Ich trollte mich zu meiner Mutter in die Küche, die mit letzten Handgriffen kurz davor stand, zu Tisch zu rufen…
… da ging die Türglocke.
„Mmh?“ ging der fragende Blick meiner Mutter zu mir herüber. Ich antwortete mit einem gedehnten Schulterzucken. Zaghaft fragte sie ins Wohnzimmer hinein, ob mein Vater noch jemanden erwarte. – „Nein“, murmelte der nur kurz angebunden in die Kehle hinein und sah dabei nicht einmal vom Fernseher auf. – „Gehst Du denn mal?“ fragte meine Mutter mich.
Ich öffnete – und der Nachbar aus der Parterrewohnung unter uns stand vor der Tür. Er bat mit knapper und korrekter Freundlichkeit um Einlass. „Ich möchte das ungern auf dem Hausflur besprechen. – Darf ich denn einmal das Familienoberhaupt sprechen?“
Ich ging also zur Wohnzimmertüre und bat meinen Vater herbei, blieb dann selbst am Ende des Korridors stehen und harrte der Dinge. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen grüßte der Nachbar meinen Vater gleich von Ferne sehr förmlich und kurz angebunden – und machte keinen Hehl daraus, dass er ihm die Hand nicht reichen würde. Er fackelte nicht lang herum: „‘n Abend, der Herr. Entschuldigen Sie die abendliche Störung… Gegen eine Fete hab ich ja mal nichts einzuwenden. Kann dann auch ruhig mal ‘n bisschen lauter werden. – Aber dieses Geschrei bis mitten in die Nacht verbitte ich mir ganz entschieden! Und heute Mittag war es ja auch nicht gerade leise!“
Ich glaube, unwillkürlich zuckten meine Mundwinkel aufwärts: Nicht, dass mir nach Lachen zumute war – eher hatte ich Angst, dass mein Vater wieder einmal die Beherrschung verlieren würde. Aber ich hatte doch eine diebische Freude daran, meinen Vater sprachlos zu erleben.
„Ich kann Sie nur bitten“, klang es mit unüberhörbarer Schärfe noch geboten freundlich, „diese Unannehmlichkeiten abzustellen! Andernfalls müsste ich die Genossenschaft informieren! – Und das würde dann für Sie nicht so gut aussehen…“ Innerlich zog ich den Hut vor diesem Mann und erbot ihm meine Achtung: Endlich mal einer, der sich traute, meinem Vater offen, Auge in Auge, die Stirn zu bieten.
„Ja, wissen Sie… Ja, selbstverständlich. Nein, das wird nicht mehr wieder vorkommen. Ganz sicher. Das war nur… wir hatten…“
Nicht weniger förmlich und distanziert, als er angegrüßt hatte, schnitt unser Nachbar meinem hilflos stammelnden Vater die überflüssigen Worte ab: „Ja, dann… wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend! – allerseits.“ Der Herr nahm die Wohnungstüre schon selbst in die Hand und trat wieder hinaus.
Eilfertig huschte ich an meinem Vater vorbei und zischte in die Küche, um meiner Mutter irgendwelche Handgriffe abzunehmen. Ich hätte mich niemals getraut, meinem Vater in diesem Moment einen Blick zuzuwerfen, ja nur seinen Blick zu streifen – aber es hätte mich nicht gewundert, wenn ihm – die Kinnlade nur noch hängend, den Mund offen – die Sprachlosigkeit als leicht dahin skizzierte Fratze ins Gesicht geschrieben war.
„Danke, danke, danke!“ dachte ich bei mir, „dass da endlich einmal jemand war, der meinem Vater zeigte, dass man auch ohne dicke Muskeln und ohne stimmgewaltiges Gebrüll stärker sein konnte als er.“