Abwärts leben – Leseprobe 2

Auszug aus:

Tage der Freude und des Feierns

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Wenn ich sonntags zu keiner Messe eingeteilt und daheim war, oder wenn ich schon früh zurück war vom Messdienen, dann ging ich schon um zehn zum ersten Mal zum Kramladen, um für meinen Vater eine Flasche Bier zu kaufen. Ich lief auch ein zweites und ein drittes Mal. Und die zwei Gläschen Weinbrand, die mein Vater sich zwischendurch genehmigte, bauten jenen Pegel auf, den er brauchte, um diese Beherrschung zu verlieren, die ihm „draußen“ so hohes Ansehen einbrachte. Kleinig- keiten waren es dann, die ihn zur Raserei brachten. Für uns war nicht vorhersehbar, was es sein würde – und das machte den Vater so unberechenbar, obwohl wir wussten, dass es an einem Sonntag wie an jedem Sonntage geschehen musste.
Oft auch war ich es, der mit Nachmittagswünschen zu sehr nervte. Wünschte ich mir doch bloß Eltern und einen Vater, wie andere ihn auch hatten: Einen Vater zu haben, der wenigstens am Sonntag ganz viel Zeit für sein Kind hatte. Statt stier und stumpf im Sessel zu sitzen und die Zeit eines solchen Tages durch bloße Ausdauer nieder zu ringen.
Mit derselben Regelmäßigkeit hätte man die Uhr danach stellen können: Mein Vater brauchte eine dreiviertel Stunde. Eine dreiviertel Stunde Toben, Brüllen, Schreien. Körperliche Attacken – schubsen, ziehen, in die Ecke schleudern. Keine exzessiven Prügeleien, an denen er sich abreagiert hätte – immer nur stakkatoartige Übergriffe. Auch das machte diese Ausbrüche meines Vaters noch einmal unberechenbarer.
Sonntage, die andere ersehnten und genossen als Tage der Ruhe und als Tage von Familienleben. Für uns der reine Psychoterror.
Für uns war es ein Leben unter Angst. Unter ständiger Angst – die man, lebt man nur stets darin, als Druck gar nicht mehr wahrnimmt! Es ist einfach so. Und es war so, dass es ihm offenbar so etwas wie Frieden bot. Er trank sich hinein, er tobte sich hinaus – und war danach vollkommen ruhig. Er saß dann meist vor dem Fernsehgerät und ließ die Zeit verrinnen. Das Familienleben, das Leben mit einem Sohn und das Leben mit einer Ehefrau rannen an ihm vorbei – das schien ihn nicht einmal zu berühren. Schließlich hatte er seinen Frieden. So schien es.
Nach seiner Attacke hatte ich „frei“. Ich konnte zum Besispiel mit dem Fahrrad fahren, wenn ich wollte. Ich wählte dann fast immer dieselbe Strecke. Ich klapperte die Großeltern, Onkels, Tanten ab und kehrte wohl verrichteter Dinge heim. Manch- mal wurde mir auch Jugendkino erlaubt, oder am Sonntagstreffen der Jungschärler teilzunehmen. Zu den Treffen der Jungschärler oder auch der Messdiener durfte ich übrigens oft auch noch zweimal während der Woche… aber sonntags war das eben etwas Besonderes.
Unter dem Druck der ständigen Angst und unter dem Druck der ständigen Kontrolle erschienen mir diese „Begünstigungen“ wie väterliche Großzügigkeiten und meinem Alter kaum angemessene Freiheiten. Dass andere in den Gruppen noch häufiger an diesen Treffen Teil nahmen, gab mir nicht zu denken.
Die Treffen der Jungschärler- und der Messdienergruppen boten mir Gelegenheit, Ausgleich zu suchen für die mangelnde Aufmerksamkeit meiner Eltern. Hier der Vater, der in der Woche hart schuftete – und an Wochenenden nichts als eine Bedrohung war. Hier also der Vater, der immerhin seinen Versorgungspflichten nachkam. Dort die Mutter – die neben ihrer nachmittäglichen Halbtagsstelle als Reinigungsfrau mit dem Haushalt ganz allein gelassen war, im Haushalt ihrer Eltern auch noch wenigstens das Gröbste machte, und die neben all dem die Heimarbeit für die Druckerei erledigte. Sie kann rückblickend betrachtet kaum Luft zum Atmen gefunden haben. Also erst recht nicht die Zeit für ein Kind.
Die Mutter in meiner Mutter erwachte, wenn ich den Attacken des Vaters aus- gesetzt war: Die Mutter in ihr erwachte, wenn wenigstens die einfachsten Be- schützerinstinkte aufgerufen wurden.
Ich kam ins vierte Schuljahr und bald stand die Erstkommunion bevor – ein Fest, das für ein Kind von großer Bedeutung und lange unvergesslich ist…
Die doch recht bescheidenen Verhältnisse unserer Wohnung führten im Rahmen dieses Festes – das ja nicht groß genug ausfallen konnte! – zu umfangreichen Veränderungen: Zwei Tage vor dem Fest wurde das elterliche Schlafzimmer in einen Speisesaal verwandelt. Meine Eltern nächtigten derweil notdürftig in meinem Zimmer. Und ich wurde ganz ausquartiert! – Ausgerechnet bei jenem Nachbarn fand ich Unterkunft, der sich bei mir durch die Auswirkungen seiner regelmäßigen Besuche einen Ruf erarbeitet hatte: Jener samstägliche Trinkfreund meines Vaters, mit einer Flasche Chantré in der Hand.
Dort ebenfalls unter bescheidenen Verhältnissen, nächtigte ich im „öffentlichen Raum“ des fremden Haushaltes: im Flur! Und bekam auf diese Weise mehr vom Leben des fremden Leute mit, als mir lieb war: Einen Morgen war ich gerade erst erwacht, als der Nachbar zur Toilette ging – splitterfasernackt. Ich sah sein gewaltiges männliches Glied baumeln – und konnte mir gar nicht vorstellen, dass mein Penis nur die niedliche, kindliche Version desselben Dings war, die also nicht so klein bleiben würde. Kurz darauf ging seine Frau zur Toilette. Ebenso unbekleidet: nackt, wie zuvor der Herr! Brüste sah ich da… von Größe und Gewaltigkeit, und mit jedem ihrer Schritte frei und gewichtig schwingend. Brüste, von denen ich bisher nur wusste, dass es eben zwei sind. Dass sie unter Blusen, Kleidern, Pullovern für Erhebungen sorgen bei den Frauen. Brüste, von denen ich bisher nur wusste, dass sie mit Scham und Anstand unter Kleidung verborgen werden. So hätte ich mir dieses stets peinlichst gehütete Geheimnis nicht vorgestellt.
Ich stellte keine Fragen. Ich fragte meine Eltern nicht, und niemanden sonst. Ich sprach nicht darüber, was ich gesehen, was ich nicht verstanden hatte. Was hätte mich erwartet? Vorwürfe, dass ich hingesehen hatte? Vernichtende Vorwürfe, dass ich meine Nase in die intimste Privatheit dieses Ehepaares gesteckt hatte? Falsche Anschuldigungen, ich hätte das bloßer Neugier getan?
Oder hätte mein Vater mir gar unterstellt, ich hätte mir das nur ausgedacht, um einen Keil zwischen ihn und diesen Freund zu treiben? Meine Fantasie hätte damals so weit niemals gereicht! Nicht im Traum hatte ich eine Vorstellung davon, wie der nackte Körper meiner Eltern ausgesehen haben mochte. Nacktheit war lediglich ein kindlicher Freiraum, den die Fürsorge der Mutter verlangte. Mit der Nacktheit des erwachsenen Körpers freizügig umzugehen, widersprach so sehr dem Konsens der Zeit – vor allem aber der katholischen Frömmigkeit und strengen Sittlichkeit, unter der ich aufwuchs – dass ich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, mir einen erwachsenen Körper überhaupt nackt vorzustellen.
Diese Bilder hatten mich eiskalt und schlicht überrumpelt!
Schockiert, hilflos und allein gelassen blieb ich mit diesen Eindrücken zurück. Ich konzentrierte mich darauf, mich auf das Fest der ersten Kommunion zu freuen…
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