Abwärts leben – Leseprobe 4

Auszug aus:

Vielerlei Wege, zu schlucken

Nach den Flitterwochen holte mich der Alltag gleich knüppeldick ein.
Mein Kollege hatte gekündigt – und ich stand mit der Disposition wieder allein da! Nichts Ungewöhnliches. Denn dass ich der Einzige war, der die Stellung eisern hielt, während andere Disponenten kamen und gingen wie die Zugvögel, das war ja schon Gewohnheit. Und so nahm ich die Botschaft sehr gefasst auf…
Ich war morgens wieder der Erste – und abends der Letzte.
Parallel dazu aber wuchs das Unternehmen immer weiter.
Unsere Chefs erweiterte den eigenen Fuhrpark Schritt um Schritt – mit schnellen
und großen Schritten. Wir bekamen weitere Kies- und Zementzüge und sogar eine weitere Beton-Förderpumpe. Dem lag eine wohl abgestimmte Kalkulation zugrunde. In erster Linie sollten die Fremdspediteure weniger in Anspruch genommen und deren Gewinne „im eigenen Laden“ gehalten werden. Eine Strategie, die in modernen Zeiten des mithin totalen Outsourcings kaum nachvollziehbar erscheint. Dabei muss man aber berücksichtigen, dass heute nicht großzügig Gewinne anderen überlassen werden – sondern in erster Linie unternehmerische Risiken ausgelagert werden.
Dereinst war der Preis für Subunternehmer relativ deutlich höher als heute. Und so lohnte sich jedes Fahrzeug, das zwar auf unsere Kosten, aber auch unter unserem Namen lief – und am Ende mehr Gewinn eintrug. Wir hatten die zu geringe Auslastung nicht eines einzigen Fahrzeugs zu beklagen. Unsere Chefs hatten schon sehr gut und genau beobachtet, zu welchem Zeitpunkt die Investition in den eigenen Fuhrpark sich praktisch risikofrei amortisieren würde.
Dazu wiederum trug die Gesamtlage in Deutschland bei. Zunächst mochte man gar nicht so sicher ausmachen, ob die Übernahmen kleinerer Betonunternehmen und die Zusammenschlüsse mit glaubwürdigen Wettbewerbern nicht eigentlich Angstläufe meiner Chefs waren: Bis der Markt einknicken würde, musste die Konkurrenzsituation überschaubar sein. Und dass der Markt einknicken würde, damit mochte man rechnen, denn in den 50er und 60er Jahren war Deutschland endlich und weitestgehend wieder aufgebaut. Dass der Markt seine Sättigung erreicht haben und die Luft bald dünner werden würde, erschien absehbar.
Aber auch in den 70er Jahren riss der Bauboom nicht ab. Im Gegenteil.
Von diesem Boom ließ sich nun spielend mehr abschöpfen, indem man den eigenen Fuhrpark erweiterte, den Subunternehmern weniger Fuhren zuteilte – und doch gleichzeitig ihre Kapazitäten für die weitere Expansion wie ein Ass im Ärmel wusste.
Es mag wohl ein Fehler gewesen sein, dass ich mir nicht klar machte, weshalb ich unter meiner Arbeit immer mehr erstickte. Während nämlich meine Chefs die Lage sehr gut analysierten – so muss ich mal unterstellen, wenn sie nicht bloß einfach Glücksritter waren – machte ich nur meine tägliche Arbeit. Endlich schien ich mein Tagwerk nicht mehr bewältigt zu bekommen, wenn nicht Hanna in ihren Mittagspausen abgearbeitet hätte, was bei mir sonst gnadenlos liegenblieb.
Und so blieb mir am Ende ein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen gegenüber meinen Chefs: Da ich ja offensichtlich meiner Arbeit nicht gewachsen war. Und diese innere Dankbarkeit, dass sie mich dennoch weiter beschäftigten! Ein schlechtes Gewissen Hanna gegenüber: Die ja plötzlich ein unentbehrlicher Teil meines unzulänglichen Systems geworden war. Am Ende sogar ein schlechtes Gewissen gegenüber einem anderen Kollegen: Ein Kollege, der schließlich auch mein bester Freund werden sollte, nahm mir häufig Arbeiten ab, obgleich er – als Mitarbeiter im Verkauf – damit gar nichts zu tun hatte.
Trotz allem: Mein Job als Disponent machte mir Spaß.
In diesem Job und unter diesen Rahmenbedingungen zu überleben hatte so beiläufig auch noch etwas Heldenhaftes. Während andere Disponenten hier kamen und gingen wie die Jahreszeiten, während andere Disponenten hier gediehen wie eine stürmische Frühjahrsblüte, und während sie verausgabt eingingen, ehe es Sommer wurde… blieb ich standhaft dabei.
Virtuos zog ich an den Fäden und jonglierte mit den Bällen. Bisweilen musste ich mir solche Bilder aufrufen, damit sich das alles noch gut und abenteuerlich anfühlte, was mich nichts auf aufrieb mit der Zeit…

Es war schon zwei Uhr durch, als ich endlich ins Bett kroch. Hanna regte sich ein wenig, schien aber nicht richtig wach zu werden. Ich hätte mir gewünscht, von Hanna nun interessierte Fragen zu hören, Mitleid zu ernten – Halt zu finden. Einfach: Halt. Und Trost. Und andererseits war ich froh, dass ich sie mit meiner späten Heimkehr nicht geweckt hatte.
Zugleich auch war ich froh, dass sie keine Fragen stellte. Ich war erleichtert, mich jetzt nicht offenbaren zu müssen – und wusste doch, dass ich nichts würde verbergen können.
Unter Tränen gestand ich Hanna am nächsten Morgen…
Es war noch spät am Abend gewesen, als ich den Wagen vor unserem Haus zum Stehen brachte. Ich brauchte ein wenig Zeit, in der der Motor nachlief, bis ich den Autoschlüssel greifen und abziehen konnte. Ich brauchte eine Pause, um mich zu besinnen. Dann schwenkte nach links hinüber, gegen die Autotür gelehnt, und fingerte benommen nach dem Türöffner. Klock. Die Tür ging auf. Ich wippte bedenklich nach links, weil mir plötzlich der Halt entglitt. Dann schwang ich die Tür auf. Ich setzte schon einmal meinen linken Fuß auf schwankenden Boden.
Da stellten sich mir plötzlich zwei Beine in den Weg. „Oh, nein“, dachte ich, „jetzt nicht mein Vater! Der müsste doch längst schlafen! Verdammt.“ Ich hatte jetzt wirklich keine Lust auf ein Donnerwetter von ihm. Zu nachtschlafener Stunde. Und auch noch auf offener Straße!
Ich gab mir große Mühe, um meinen Kopf allmählich zu ihm hinauf zu bewegen, während ich noch auf dem Autositz saß, den Autoschlüssel in der rechten Hand. Das Lenkrad noch warm von meinen Händen, der Motor noch warm vom Fahren. Ich sah:
Eine Uniform.
Selbst das schummerige Straßenlicht verbarg nicht mehr das Grün der Uniform. Der Schock drang durch, trotz der Betäubung. Der Film, der in meinem Kopf ablief, war dramatisch – so gut konnte ich dann doch noch denken. Das Drehbuch, nach dem es nun weiter ging, war verhängnisvoll und logisch. Meine armselige Statistenrolle in diesem Leben flammte mal kurz und wenig ruhmreich auf zur Hauptrolle.
Ich musste erkennen, dass der Mann in der Uniform mir nicht freundlich gesonnen war. Ich stieg also aus und wahrte Haltung – so gut das noch ging. Die Uniform wickelte das gängige Ritual ab: Fahrzeugpapiere, Führerschein – bitte. Ich bildete mir standhaft ein, mich vollkommen unauffällig zu verhalten und zu bewegen. Ich sprach möglichst wenig, denn wenig Text, so wähnte ich, würde auch verbergen, dass ich „ein wenig“ über den Durst getrunken hatte. Ein wenig Trotz gegenüber der Polizei war schon obligat – aber deshalb gleich auf übermäßigen Alkoholkonsum zu schließen, das war dann nur noch dreist!
Es half nichts: Die gefürchtete Frage war nicht mehr zu verhindern, ob ich damit einverstanden sei, einmal „ins Röhrchen zu pusten.“
Der Nebel in meinem Hirn hatte mir eine Kreativität verliehen, unter deren Einfluss ich meine tatsächlich Lage nicht etwa vollkommen falsch einschätzte – ich schätzte sie gar nicht mehr ein… Schade, dass er nicht gesagt hatte: Blasen Sie mal! – dachte ich nur. Hätte ich sagen können: Wem? Hätte er gesagt: … oder was!
Zynischer Eifer sollte mir noch hinlänglich zum Katzenjammer mutieren.
Im Hintergrund entdeckte ich seinen Kollegen. Es war nicht zu übersehen, dass der sein hämisches Grinsen kaum zu unterdrücken wusste.
Ich hätte einwenden können, ich sei nicht einverstanden. Am Ergebnis hätte das nichts geändert. Dass ich gerade aus der Kneipe gekommen war, dass ich getrunken hatte, dass ich wahrscheinlich sogar zu viel getrunken hatte… all das wusste ich selbst und viel zu gut. Mit welchem guten Argument hätte ich mich der staatlichen Gewalt nun widersetzen sollen?
Also willigte ich widerwillig ein. Ist eine durch solche Umstände erzwungene Einwilligung tatsächlich eine gültige Willenserklärung? Staatsmacht hin und Demokratie her? Es änderte nichts. Und so ergab ich mich – diese Haltung war ich ja gewohnt – dem mir hübsch und gebrauchsfertig präsentierten freien Willen.
Ich pustete ins Röhrchen. – Mir fuhr der zweite Schock in die Glieder. Zwei Promille! Ein verhängnisvolles Weder-Noch: Weder etwas, das mich hätte entlasten können, noch etwas, auf das ich stolz sein konnte. Und weit jenseits jeden Zweifels.
Die staatliche Gewalt rang mir ein weiteres „Einverständnis“ ab: „Sind Sie damit einverstanden, dass wir Sie mit auf die Wache nehmen? Wir müssten einen Bluttest durchführen lassen.“ „Was? Ein…?“ ich stammelte nichts Konkretes mehr hervor und war fassungslos ob des wohl bekannten Automatismus, der nun anrollte. Sollte ich mir etwa Hoffnung machen, dass ein Bluttest mir 0,79 Promille attestieren und mir so den Hals aus der Schlinge retten würde? Und: Konnte ein „Röhrchen“ um ein so Vielfaches stärker irren als ich selbst?
„Mit auf die Wache nehmen“ war wörtlich gemeint. Als ich meinen Führerschein wieder zurück haben wollte, glitt meine Hand ins Leere: „Den behalten wir erst einmal…“ „Wir“ hatte ich ihn sagen hören. Dieser Schnösel maßte sich an, den Pluralis majestatis zu verwenden! Kommt das ganz von selbst, wenn man sich andient, dem Gesetz jene Macht zu verleihen, die man nüchtern Staatsgewalt nennt?
Dass er mir meinen Führerschein nicht wieder zurückgab, war schon ein Eingriff in meine persönliche Freiheit, den ich schon hinlänglich drastisch fand. Aber mit jener Formulierung bäumte sich der Schnösel einmal mehr vor mir auf – und machte mir klar, dass ich von nun an oder zumindest vorläufig nichts als ein Würmling war vor Recht und Gesetz. Und dass mir ohnehin keine Wahl mehr blieb. Noch also folgte ich vernunftbegabt der Zwangsläufigkeit, die nun nicht mehr aufzuhalten waren.
Auf der Wache ließ ich mir – selbstverständlich „freiwillig“ – Blut abnehmen. Dann erstellte man ein Protokoll, las mir vor und fragte mich, ob ich mit allen Formulierungen einverstanden sei… Ich konnte nur beobachten, wie man mich – einen freien Bürger in einem freiheitlichen Staat – zum Schafott führte. Aller Widerstand war zwecklos: Natürlich war ich „einverstanden“.
Ich fand mich irgendwo zwischen entmündigender Fürsorglichkeit, bürokratischer Teilnahmslosigkeit und Menschen verachtender Überheblichkeit als Spielball wieder. Dabei flog ich wie ein Flummi hin und her zwischen den Zwangsläufigkeiten – und fühlte mich, ziellos, scheinbar unbestimmt umhertrudelnd und wenig dynamisch wie ein schlaffer Fußball auf nassem Gras.
Endlich bäumten sich in mir Wille und Kraft zum Widerstand gegen dieses Theater auf, in dem man mich behandelte, als hätte ich nur die Rolle eines Komparsen zu erfüllen, der gerade etwas störrisch und schlecht parierte. Dabei hätte ich als Darsteller in der Hauptrolle etwas mehr Respekt erwarten können!
„Ich bin britischer Staatsbürger!“ brüllte ich endlich, befahl meinem Körper einen Ruck, mit dem ich jeden Muskel anspannte und meine Körperhaltung straffte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen. Aber dazu fehlte mir der Mut. Zu viele Augenpaare der Staatsgewalt waren auf mich gerichtet. Wer weiß, wozu die Staatsgewalt bereit gewesen wäre. „Ich bin Untertan ihrer Majestät! Der Queen!! So können Sie mit mir nicht umspringen!“
Ich erreichte das Gegenteil dessen, was ich hatte erreichen wollen: Ich erheiterte die deutsche Staatsgewalt. Die Polizisten waren so freundlich und respektvoll, mich nicht auszulachen. Ihr Grinsen, auch mal ein verzweifeltes Glucksen, konnten sie nicht unterdrücken. Vor allem aber: Kein Einlenken der Staatsgewalt. – Ich beschloss eilends, die Queen besser nicht noch tiefer mit in diese armselige Angelegenheit hineinzuziehen. Ich schwieg.
Am Ende hatten die Polizisten, was sie brauchten. Und ich stapfte zu Fuß nach Hause…
Es war schon zwei Uhr durch, als ich endlich ins Bett kroch.
Am nächsten Morgen ging ich zu Fuß zur Arbeit. Hohn und Spott schlugen mir schon entgegen. Einmal ganz abgesehen davon, dass mir die Schadenfreude der liebenswerten Kollegen bis tief ins Herz stach, konnte ich mich wundern, dass alle schon Bescheid wussten, ehe mich überhaupt einer gefragt hatte, weshalb ich zu Fuß war. Hätte ja auch, so grämte es mich, sein können, dass einfach bloß mein Auto gestreikt hatte! Aber nein. Es gab niemanden, der Fragen hatte. Wer hier noch fragte, der fragte, um mich zu foppen.
Nun sprechen sich natürlich die betrüblichsten und ärgerlichsten Angelegenheiten in der Welt schneller herum, als selbst die erfreulichsten! Das muss am starken Drang des gebeugten Menschen zur Schadenfreude liegen. – Aber woher nur wussten sie alle bereits bescheid? Ich zermarterte mir vergeblich den Kopf, was es damit auf sich haben mochte. Aber mehr noch beschäftigte mich mein Ärger darüber, dass die Kollegen an diesem Tage von mir nicht lassen mochten. Begegnete man sich sonst mit einem knappen „Hallo!“ oder einem stummen Blick, so setzte es nun gleich wieder einen fiesen Stich, einen herben Schlag – einen dummen Spruch, der von Schadenfreude nur so troff.
Tage später erzählte mir der Neue im Verkauf – jener Freund, der er mir werden sollte – was es auf sich hatte mit dieser vorauseilenden Schadenfreude […]