KRIM war nicht die erste Annexion

Hatte die faktische Annexion des sowjetisch verwalteten Sondergebietes um Kaliningrad, die 1990 durch Russland vollzogen worden war, einen Einfluss auf Putins Entscheidungen?

Am 12. Juni 1990 erklärte Russland seine Souveränität. Musste man das als Signal verstehen, nachdem bereits die drei baltischen Republiken ihren Austritt aus der Sowjetunion erklärt hatten? Schließlich waren 80 % der Bodenschätze der UdSSR auf russisch beanspruchtem Gebiet zu finden – folglich in Provinzen oder Verwaltungsregionen Moskaus. Erst recht, nachdem Moskau also einen Gebietsanspruch als „russisch“ statuiert hatte, konnte man so etwaigen Unabhängigkeitsbestrebungen wenigstens der Provinzen wirksam vorgreifen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand den De-facto-Status der Exklave Kaliningrad in Frage gestellt hätte. Und ich gebe zu: Zu jener Zeit auch ich nicht.

In den 90er Jahren sah man – hoffentlich auch im Rückblick noch mit Fug und Recht – Russland in einem Prozess der Demokratisierung. … und auf dem Weg, sich eher Europa anzunähern, als in zaristische Großmachtfantasien einzutauchen und Europa als Gegner zu stilisieren.

1990: Moskau in Richtung Demokratie

Nicht zuletzt stand ein zum Präsidenten des unabhängigen Russland (April 1991) gewählter Boris Jelzin dereinst für einen deutlich neutralen Kurs in Richtung Demokratie. Die Gründung der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten im Dezember 1991 stand dazu keineswegs im Widerspruch. Die GUS schien eher ein Versuch zu sein, geordnete Verhältnisse der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu bewahren, wo die Auflösung der Sowjetunion eher Chaos und politische Instabilitäten in Aussicht stellte. – Über die faktischen Abhängigkeiten (siehe oben), die sehr wohl stets zu erkennen waren, muss man an dieser Stelle nicht diskutieren.

In meiner öffentlich unbeachteten Publikation „Ent-Wicklungen – Chancen für Europa“, die ich am 12. März 1998 abgeschlossen hatte, war ich auf ein wesentliches Detail nicht eingegangen. Und ich kann mich nicht damit herausreden, dass ich erst Anfang März 1998 eine interessante Quelle der Erkenntnis erstanden hatte: „Teheran Jalta Potsdam – Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der »Großen Drei«“. – Ein Werk, dass im ‚Verlag Wissenschaft und Politik‘ bereits 1968 in 1. Auflage erschienen war. Also noch zu Sowjetzeiten!

1945: Königsberg geht an Sowjetunion

Dort wird aus den „offiziellen Dokumenten zur Konferenz“ in Potsdam, die vom 17. Juli – 1. August 1945 stattgefunden hatten, wie folgt wiedergegeben:
„Die Konferenz hat dem Vorschlag der Sowjetunion hinsichtlich der Übergabe der Stadt Königsberg und des angrenzenden Gebietes an die Sowjetunion, wie oben dargelegt, grundsätzlich zugestimmt, wobei der genaue Grenzverlauf einer Prüfung durch Sachverständige vorbehalten bleibt.“
(„Teheran Jalta Potsdam – die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der »Großen Drei«“, Verlag Wissenschaft und Politik,Köln, 1968, 3. Aufl. 1985 – Seite 399)

Nach einer aktiven Besiedlungspolitik von Russland aus (schon aufgrund militärischer Interessen, die insbesondere mit dem Hafen der Metropole zusammenhängen) kam ein Ruf nach Unabhängigkeit der Exklave Kaliningrad gar nicht erst auf. So wurde aber auch die Notwendigkeit, über einen Anschluss an Russland zumindest einmal zu sprechen, auch im Ausland nicht erkannt. Schließlich war dieses Gebiet der Union der Sowjetrepubliken zugesprochen worden – NICHT der Teilrepublik Russland!

1990: Region Kaliningrad faktisch annektiert

De facto war die sang- und klanglose Vereinnahmung der Exklave Kaliningrad eine Annexion eines Gebietes der einstigen Sowjetunion durch Russland. Diese Exklave stand unter Sonderstatus innerhalb der UdSSR. Und Russland ist kein Rechtsnachfolger der UdSSR – auch wenn die Übernahme der atomaren Bewaffnung durch Russland diesen Schluss nahelegt. – Folglich hätte auch der Status der Region Kaliningrad mit den einstigen alliierten Mächten, mit Großbritannien und den USA, ausdrücklich verhandelt werden müssen.

Ich gebe gern zu, dass vermutlich das Ergebnis kein anderes gewesen wäre: Wohl kaum hätten zu jener Zeit – 1991 – Washington oder London ein Interesse gezeigt, den scheinbar besänftigten „Erzfeind“ wegen der dortigen militärischen Einrichtungen bedeutsam zu provozieren.

Faktisch aber bleibt es, was es ist: Die Beanspruchung der Exklave Kaliningrad durch das unabhängige Russland ist eine unrechtmäßige Annexion von staatenlosem und durch die einstige Sowjetunion lediglich verwaltetem und nicht allein wirtschaftlich genutztem Gebiet.

Man kann sich fragen, ob die Betrachtung dieser faktischen Annexion Einfluss auf Putin oder seinen Beraterkreis ausgeübt hat, als man die Annexion der Krim in Erwägung zog…

Schulterschluss der NATO mit der Ukraine

… ist ausgeblieben. Und das genau war eine Einladung zur gewaltsamen Einnahme eines Staates, der de facto schutzlos war.

Nun kann natürlich jeder im Nachhinein leicht behaupten, so oder so ist es falsch gelaufen. Und so oder anders hätte man besser handeln können. Deshalb nehme ich mir an dieser Stelle heraus, aus meinem Buch von 1998 nur einen weiteren Beitrag zu zitieren:

(„Ent-Wicklungen – Plädoyer für eine Politik des Umbruchs„; zweiter Untertitel: Ein Modell für den gesellschaftlichen und politischen Wandel in Europa und der Welt)

(Seite 44 der Buchausgabe  – 2008 bei Books on Demand, nachdem Vermarktungsversuche 1998 bis 2000 unter Einbeziehung von Verlagen und einem Buchagenten gescheitert waren. Ich informiere hier noch einmal erläuternd voraus, dass ich das Manuskript 1995-1998 verfasst und gleichsam als Rückblick auf Entwicklungen und einen Ist-Stand zum Jahre 2019 konzipiert hatte. Mangels Leserinteresses hatte ich zwischenzeitlich das Buch auch bei „Books on Demand“ wieder zurückgezogen: Dereinst kostete die Datenhaltung noch regelmäßiges Geld.)

Der Schulterschluss der NATO mit der Ukraine – Vonseiten der NATO interessant ist die Konstellation, die man mit der Ukraine erreicht hat. Die von der Ukraine angestrebte Mitgliedschaft in der EU wurde zunächst ausgesetzt und erübrigte sich durch die Gründung der FUE und das seither gültige Steuerrecht. Ein Beitritt zur FUE wurde bisher als verfrüht bewertet; man verhandelt derzeitig um die Aufnahme im Jahre 2027. Damit wäre die Vollintegration in die NATO zwangsläufig verbunden.
Am 9. Juli 1997 wurde ein Kooperationsvertrag der NATO mit der Ukraine geschlossen. Anfang dieses Jahrhunderts erweiterten die europäischen NATO-Partner die Sicherheitszusammenarbeit mit Kiew und stimmten dem einseitigen Beistandspakt zu, der die Sicherheitsinteressen der Ukraine auffängt, bevor eine NATO-Mitgliedschaft zum Tragen kommt.
Dieser Pakt sieht vor, dass bei militärischen Übergriffen auf den ukrainischen Staat die FUE in die Verteidigung gegen Angriffe vorbehaltlos eingreift. Erfolgt jedoch eine Offensive gegen die NATO insgesamt oder gegen einen ihrer unmittelbaren Bündnispartner, so beteiligt sich die Ukraine aktiv nur insoweit an der Verteidigung, als bei Angriffshandlungen deren Hoheitsgebiet einschließlich des Luftraums verletzt wird. Man darf trotz der formalen Brisanz dieses Vertrages zwischen Brüssel und Kiew die Interessen der Ukraine nicht aus den Augen verlieren: Die Ukraine sollte in angemessener Weise in eine Partnerschaft unmittelbar mit Europa und mittelbar mit der NATO eingebunden werden. Und seien die Sicherheitsrisiken für die Ukraine vor dem Hintergrund der Grundakte zwischen der NATO und Russland ebenso wie der seit 1998 engen Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und Russland noch so abwegig: Auf diesem Wege konnten Sicherheitsstrukturen manifestiert werden, die der Ukraine unter Beachtung der damals noch immer nicht befriedigend gefestigten Verhältnisse zwischen Moskau und Kiew und nach der Preisgabe aller atomaren Potenziale an Moskau dennoch gegen alle Eventualitäten eine unbeugsame Rückenstärke verleihen.
Die akribisch differenzierten Beistandsverträge mal mit der NATO, mal mit der FUE zeigen sehr deutlich den engen Handlungsspielraum auf, den das NATO-Bündnis lässt. Amerika beanspruchte ein Jahrhundert lang praktisch weltweit den Status der Schutzmacht und stellte seit dem Zweiten Weltkrieg besonders für Europa den Anspruch, eine demokratische und marktwirtschaftliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu schützen. Frankreich scherte bereits in den 60er Jahren aus der Sicherheitsstruktur der NATO aus und galt seither als assoziierter Partner: Frankreich verteidigte als eigenständige Atommacht mit einer unabhängigen Verteidigungspolitik seine Sicherheitsinteressen und hätte nötigenfalls die atomare Vernichtung von Bündnisstaaten in Kauf genommen, um sich über eine kollabierende NATO-Verteidigungsarbeit hinaus behaupten zu können. Die französische Regierung zeigte sich zu einer Reintegration in die Kommandostrukturen der NATO erst bereit, als sich der Aufbau einer selbstständigeren europäischen Sicherheitsarchitektur herauskristallisierte. Die USA tragen die Sicherheitspolitik der europäischen Partner nicht unbeschränkt mit, werden aber andererseits in ihrer Sicherheitsverantwortung durch eine Stärkung der europäischen Position entlastet.“