NRW und die Akw’s in Belgien

Jahrestage rücken näher – die beiden Standorte moderner Stromerzeugung in Belgien, Tihange und Doel, nicht. Es sind eben „Stand“-Orte. Zu denen es unterschiedliche Standpunkte gibt.
Die Jahrestage, die ich meine: Der 11. März für Fukushima, erst vor 5 Jahren zu einem Datum geworden, das uns auffällt – und noch immer aktuell ist. Der 26. April, auch so ein unscheinbarer Tag, der vor 30 Jahren ein markierter Tag im Kalender wurde: „Tschernobyl“ steht da nun alle Jahre wieder – wider das Vergessen.
Dabei ist es gerade der Blick nach Tschernobyl – also der Blick nicht gar so weit gen Osten – der auch naheliegt, wenn wir nach Westen schauen.

Nun darf man sich fragen, ob Deutschland – wenn auch schon über 70 Jahre nach dem Ende der eigenen ungetümlichen Geschichte – nicht doch ein wenig mehr Zurückhaltung üben sollte, wenn es um die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Nationen geht. Ausgerechnet und wieder „die Deutschen“ wollen in fremden Häusern für Ordnung sorgen?
Aber man darf sich auch fragen, ab wann ein Nachbar sich Einmischung von außen nicht mehr verbitten kann!
Und wenn dann (Zeit-Online vom 18. Dez. 2015) der NRW-Umweltminister Johannes Remmel aus Düsseldorf ruft, die belgische Regierung spiele „russisches Roulette“, dann hat er doppelt recht: Er spielte ohne Zweifel mit der bekannten Redewendung – könnte aber auch auf den Südosten Weißrusslands abzielen!
Wenn darüber hinaus (ebenfalls Zeit-Online vom 18. Dez. 2015) Simone Mohr vom Öko-Institut in Darmstadt zitiert wird: „Die Sorge der Menschen im Grenzgebiet zu Belgien ist schon berechtigt“ – dann ist das noch mächtig untertrieben. Denn nicht nur das Grenzgebiet wäre im Falle einer Havarie eines der Atomreaktoren betroffen, sondern tatsächlich substanziell Nordrhein-Westfalen!

Am 18.08.2010 publizierte Helga Zepp-LaRouche, Journalistin und Parteivorsitzende der „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“, in ihrem Internetforum* Ausführungen des polnischen Physikers Dr. Zbigniew Jaworowski zu Tschernobyl. Herr Jaworowski war zuletzt Vorsitzender des Wissenschaftsrates des Zentrallabors für radiologischen Schutz in Warschau (Jahrgang 1927; verstorben am 12.11.2011) – und mochte sich so gewiss gern als angemessen kompetent betrachten, zu diesem Thema Stellung zu nehmen.
Dort äußert er: „Schon vor zehn Jahren hatte der Wissenschaftliche Ausschuß der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) deutlich gemacht, daß diese Maßnahmen übertrieben waren (UNSCEAR 2000). Die Umsiedlungen verbesserten die Gesundheit der betroffenen Menschen nicht, weil gar keine meßbaren Gesundheitsgefahren bestanden.“ – Gemeint waren mit den „Maßnahmen“ die Evakuierungen und die Dorfbereinigungen. Und wir staunen.
Jedoch: Insgesamt werden auf der Website des UNSCEAR die Folgen von Tschernobyl kleingeredet. Man gibt sich detailverliebt, konzentriert sich vor allem auf Schilddrüsenkrebs und ein wenig auch auf Leukämie. Vor allem aber: Man schaut auf die dann doch erstaunlich kleine Zahl von Todesfällen, die unzweifelhaft (!)  einer Strahlenbelastung zugeordnet werden können. So gerät jeder aus der Statistik, der die Frechheit besitzt, nicht schematisch vorgegebenen Krankheitsmustern zu folgen, die klassisch einer Überbelastung durch radioaktive Strahlung zugeordnet werden. Also zum Beispiel Verbrennungen der Haut, bestimmte Krebsarten, bestimmte Fristen der Krebserkrankung… Erblich bedingte Fehlbildungen, die sich im betroffenen Gebiet eindeutung erhöht haben, umgeht man lieber; die geringe Bevölkerungsdichte hält die Fallzahlen noch vergleichsweise klein.

Skizze_Tschernobyl+BelarusSO

Eine ganz andere Sicht auf die Verhältnisse in Weißrussland hatte Frau Dr. Dörte Siedentopf anlässlich des 25. Jahrestages der Havarie des Atomreaktors nahe Tschernobyl geboten. Die 2011 69-Jährige ist als Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin 2003 in den Ruhestand getreten – nicht aber in Angelegenheiten des Anfang der 90er Jahre von ihr gegründeten „Freundeskreis Kostjukovitschi e. V. Dietzenbach“.
Im Interview mit der „Tagesschau“ stellte Frau Siedentopf fest: „Anders als bei jeder anderen Katastrophe nehmen die Folgen der radioaktiven Verstrahlung mit dem Abstand zum Ereignis zu. […] Tschernobyl wütet in den Genen […]. 25 Jahre danach ist das Problem vor allem die Niedrigstrahlung.“
Frau Siedentopf ging zu anderen Erkrankungen, als dem „klassischen“ Krebs, zum Beispiel auf Diabetes näher ein: „Diabetes ist eine Krankheit, die nach Tschernobyl bei Kindern deutlich zugenommen hat. Schon Neugeborene haben manchmal Diabetes.“ Und sie erklärte, weshalb das so ist: „[…] Cäsium […] befindet sich in der Nahrungskette […]. Die Bauchspeicheldrüse der Kinder in der Gebärmutter wird so in der Entwicklung gestört. Die aber produziert das Insulin und gehört zu den sensibelsten Organen des Menschen.“
Die Ärztin sprach von dem Cäsium-Isotop 137; Cäsium 131 hat eine Halbwertzeit von 8 Tagen, Cäsium 134 von 2 Jahren.
Noch einmal Frau Siedentopf: „[…] Strontium und Cäsium, die eine Halbwertzeit von 30 Jahren haben. Man muss diese Zahl immer mit 10 multiplizieren. So lange dauert es, bis keines dieser radioaktiven Isotope mehr im biologischen Kreislauf ist. Während dieser 300 Jahre […] ist immer wieder mit der Zunahme strahlungsbedingter Krankheiten zu rechnen.“ – Zu den strahlungsbedingten Krankheiten gehören auch körperliche Missbildungen, geistige Behinderungen etc., mit denen Kinder zur Welt kommen.
Der benannte Verein widmet sich einem bestimmten Landkreis in einer besonders betroffenen Region im Südosten von Weißrussland. Frau Siedentopf hierzu: „Unsere Partnerstadt Kostjukowitschi liegt etwa 180 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt im Osten Weißrusslands. Der Kreis wurde zu einem Drittel verstrahlt. Von den damals 35.000 dort lebenden Menschen mussten 8.000 umgesiedelt werden. Mehr als 30 Dörfer wurden abgetragen oder vergraben.“ Die auch in anderer Schreibweise erscheinende Stadt Kastsyukovichy selbst, ohne den Landkreis, zählt heute 16.000 Einwohner.
Laut www.tschernobyl-kinder.info haben 70 % der Strahlenbelastung durch den Reaktorunfall nahe Tschernobyl den Nachbarstaat Weißrussland getroffen, „nur“ 15 % die Ukraine selbst. Dabei dehnt sich jene Region, in der auch Kastsyukovichy liegt, zwischen Gomel, 130 km zum Unglücksreaktor, und Krychaw, 280 km Luftlinie entfernt, aus. Dieses Gebiet hat Strahlenlasten abbekommen, wie andere Gegenden in 40 oder 70 km Entfernung zum Reaktorunglück! Dazwischen tut sich erst einmal eine „Strahlungssenke“ auf. Und das hat gewiss wesentlich damit zu tun, dass die Rauchwolke, die von dem brennenden Reaktor ausging, bis zu 1.500 m aufgestiegen ist.
Die erwähnte Region in Weißrussland bekam es sogleich am Tage des Unglücks, am 26. April 1986 ab; danach drehten die Winde allmählich nach Norden und später Osten. Am 28. April wurden am schwedischen Kernkraftwerk bei Forsmark erhöhte Strahlungswerte entdeckt – aber man fand dort keine Störungsquelle. So wurde die damalige Sowjetunion gedrängt, den bis dahin verschwiegenen Unfall öffentlich einzugestehen.

Skizze+NRW+Belgien

Weshalb ich auf jene Region in Weißrussland genauer schaue – und die Entfernungen darlege:
Bei uns herschen westliche Winde vor.

65 km nordwestlich von Tihange liegt Aachen (mit den Städten Herzogenrath, Würselen, Stolberg und Eschweiler eine Region von zusammen 440.000 Einw.), Düsseldorf (590.000 Einw.) ist 130 km entfernt, Dortmund (580.000 Einw.) 190 km… Damit ist der Ballungsraum Rhein-Ruhr grob abgesteckt, der über 10 Millionen Menschen beherbergt. Ostnordöstlich in nur 130 km Entfernung findet sich Köln; der Ballungsraum Köln-Bonn mit unmittelbar angrenzenden Städten beherbergt 2,1 Millionen Menschen.
Für einen Störfall in Doel sieht es kaum besser aus: Bei klarem Westwind liegt das Ruhrgebiet genau auf der Linie. Krefeld am Westrand des Ruhrgebietes ist ca. 150 km, Hamm ca. 250 km entfernt.
Da Winde aus West vorherrschen, kann man in Nordrhein-Westfalen auch auf Nordwestwind hoffen, um mit dem berüchtigten „blauen Auge“ davonzukommen.

„Wir in Nordrhein-Westfalen“ haben allen Grund, uns in Belgien einzumischen, wenn es dort um Strom geht.

(* „Internetforum mit Helga Zepp-LaRouche“ auf www.solidaritaet.com)