Auszüge aus:
Der stinkende Atem des heimtückischen Todes
[…]
Zuletzt sprach ich an jenem Spätnachmittag in der Kneipe über Browny – und wie und warum sie hatte sterben müssen.
Das Fatale an einer Kneipe ist nicht der Alkohol, der dort ausgeschenkt wird. Das Fatale ist die Heimat, die man dort finden kann. Salopp gesagt: Man trifft dort Gleichgesinnte. Aber dann schlösse man darauf, dass – wer in die Kneipe geht – einfach nur den Alkohol in sich hineinbechert. Und das greift zu kurz…
Viele von denen, die in der Kneipe sind, verstehen den anderen Unglückspilz auch ohne Worte, weil sie ähnlich dran sind. Vielleicht will man gar nicht im Detail erfahren, was den anderen unglücklich macht: Vielleicht ist die Angst, an Gleiches oder nur Vergleichbares erinnert zu werden, viel zu groß. Aber man sieht, dass man gar nicht so allein dasteht. Und das reicht, um einfach nur beieinander zu sitzen.
An jenem Abend saßen wir nicht bloß beieinander und tranken miteinander – oder auch bloß nebeneinander, wie so oft. Schon als ich durch die Türe gekommen war, hatten mir alle angesehen… nicht, dass etwas mit mir nicht stimmte, sondern dass ich am Boden zerstört war.
Auch das wieder: Der Unterschied zwischen den „Gleichgesinnten“ und dem Rest der Welt! Sie fragten nicht vorwurfsvoll, sie fragten nicht, um anschließend gute Ratschläge zu erteilen, gut gemeinten Rat zu geben und selbsterprobte Lebensweisheiten zu verstreuen. Sie fragten, sie hörten, sie stießen mit an – und fühlten mit, weil sie es alle so oder ähnlich selbst kannten.
Das Verhängnisvolle am Alkohol – was wohlschmeckend oder bloß mit Gewöhnung beginnt – ist, das Alkohol am Ende einfach nur zerstört. Der Alkohol macht am Ende selbst das Wenige nur kaputt… was einen für eine gewisse und nicht unangenehme Zeit sogar noch aufgefangen hat.
Und dennoch auch dieses: Es ist nicht nur der Wechsel zwischen einem vollen und einem leeren Glas. Es ist nicht nur der Wechsel zwischen nüchtern und besoffen. Es ist nicht nur der Wechsel zwischen gesellschaftsfähig, angepasst und sozial integriert – oder unzurechnungsfähig, unangepasst und sozial verstoßen.
Sondern entweder bist Du zermürbt von einem Schmerz, den Du Dir meist selbst nicht erklären kannst – oder Dein Gleichgewicht ist gestört, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist gestört… aber Du bist hinreichend betäubt, dass das Leben sich ertragen lässt. […]
[…]
Meinem Schwiegervater erzählte ich, ich hätte Browny in die Eifel auf einen Bauernhof gegeben, weil die Hündin immer eifersüchtiger auf Julia reagiert habe. Damit konnte dieser fanatische Tierliebhaber gut umgehen. Es war eine Fantasie, die sich schlüssig erzählen ließ. Es war ein Weg, der sich hätte finden lassen! Ich hatte hinreichend Freunde und Bekannte in der Eifel, über die sich eine solche Lösung hätte finden lassen! Das war ein Weg, den nicht gegangen zu sein ich mir selbst niemals verzeihen konnte. – Hanna verriet ihm die Wahrheit nie! Ihr Gewissen muss so schwarz gewesen sein wie fettiger Ruß.
Während der Hund nun nicht mehr in unserem Hause bellte, beherrschte das Bellen meines Vaters zunehmend das Haus: Er hatte immer häufiger markerschüt- ternde Hustenanfälle, er litt immer stärker unter Atemnot.
Als mein Vater dann doch endlich zum Arzt ging, war der über die beschriebenen Symptomen äußerst beunruhigt. Bestürzt war er darüber, wie lange sich das schon zog. Er horchte meinem Vater die Lunge ab… und ordnete sogleich für den nächsten Morgen eine Blutentnahme an. Gleichzeitig schrieb er meinen Vater schon einmal für eine Woche krank. So hatte mein Vater drei Tage später wieder einen Termin bei seinem Arzt, um sich den Befund der Blutuntersuchung einzuholen. Der Arzt hatte mit sachlicher Gelassenheit – um den Patienten nicht stärker zu beunruhigen, als ohnehin unvermeidbar – zur Eile gedrängt. Mein Vater gab sich gefasst…
… und verbreitete Daheim mit seiner Botschaft nur: Schrecken, Angst, Hektik.
„Ben!“ rief meine Mutter fast tonlos, während sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich die Hand vor den Mund hielt.
Mein Vater saß da, auf den Tisch gestützt, kraftlos, innerlich ermattet – und konnte mit den Worten seines Arztes herzlich wenig anfangen. „Lass mal. Ich muss mir keine großen Sorgen machen, sagt der Doktor.“ Er machte sich große Sorgen. Es war ihm anzusehen. Kleine Sorgen sehen anders aus.
„Gute Heilungschancen, hat er gesagt.“ Mein Vater ließ den Satz wie beiläufig oder zufällig fallen. Dann sah er zu meiner Mutter auf. „Was soll mir das sagen? Morgen soll ich mich in einer Spezialklinik in Köln melden. – Schon morgen!“
„Was?“ erschrak meine Mutter, „gleich morgen?“
Meine Mutter startete hektischen Umtrieb. Zu allererst rief sie meine Lieblings- cousine an. Rita war Arzthelferin in einer Kölner Praxis. So ganz nebenbei verstand sie also auch noch etwas vom Thema. – Und ich konnte nur staunen, wie problemlos bei anderen Leuten die Arbeitgeber mitspielten, wenn plötzlich die Not rief: Meine Mutter hatte sie eindringlich darum gebeten, und so kam meine Cousine noch am selben Abend aus Köln zu uns her.
Das übliche Hallo und die überschäumende Wiedersehens-Freude waren über- schattet von einer Krankheit, die niemand kannte. Überschattet von einer Krank- heit, die anonym und diffus drohte. Überschattet von Ungewissheit.
„Hat der Arzt Dir die Unterlagen gleich mitgegeben, Onkel Ben?“ fragte Rita. „Dann ginge ja alles gleich viel schneller, als wenn er sie mit der Post an die Klinik schickt.“
Mein Vater reagierte mit Verzögerung – und wirkte dann, wie aus fernen Gedan- ken gerissen. „Ja… ja, ja. Er hat mir einen ganzen, großen Umschlag mitgegeben. Warte mal! Wo hab ich den?“
Der Umschlag lag auf dem Tisch. Mein Vater hatte ihn selbst dort abgelegt… und dann nicht mehr gesehen. Rita legte ihre Hand darauf und zog den Umschlag ein paar Zentimeter näher an sich heran: „Darf ich?“ fragte sie.
„Ja, ja. Natürlich!“ wunderte sich mein Vater etwas abwesend – und schob dann lächend nach: „Wer denn, wenn nicht Du.“
Ohne Hektik machte Rita den Umschlag auf, blätterte die Unterlagen durch, erwog, blätterte zurück und wieder hin. Dann sah sie meinen Vater an. Der starrte schon wieder durch die Tischplatte hindurch auf den Boden vor seinen Füßen. Also schaute Rita zu meiner Mutter: Mit großen Augen und skeptischer Mine gab sie meiner Mutter zu verstehen, dass nichts in Ordnung war – und gab meiner Mutter, was die jetzt so gar nicht brauchen konnte. Hektisch sprang meine Mutter auf: „Ach, entschuldige! Ich habe Dir noch gar nichts angeboten. Soll ich Dir eine Tasse Tee machen?“
„Ja, gerne“, antwortete meine Cousine nüchtern. Meine Mutter machte Wasser heiß, grub gedankenlos in ihren Schränken und fand nicht gleich, was sie suchte. Mein Vater hob den Kopf, sah zu Rita hinüber und fragte: „Und? Was steht drin? Kannst Du was damit anfangen?“
„Mach Dir keine Sorgen, Onkel Ben. Die Überweisung in diese Klinik ist reine Routinesache.“ Rita – so ausdrucksstark sie meiner Mutter allen Grund zur Sorge stumm zu verstehen gegeben hatte – sah meinen Vater vollkommen entspannt und freundlich an. Beruhigen – auch das gehörte zu ihrem Beruf. „Ein Hausarzt hat einfach zu wenige Untersuchungsmöglichkeiten. Dein Doktor will da nur lieber auf Nummer sicher gehen. Eine ganz normale Sache. – In Merheim ist eine Lungenklinik. Die haben gleich die richtigen Spezialisten und die richtigen Gerätschaften vor Ort…“
„Und? Du denkst, es hat nichts zu sagen, dass er gleich so mit der Zeit drängt?“ hakte mein Vater skeptisch nach. Er wähnte sich betrogen.
„Nein, nein. Ich glaube nur, dass er bei der Behandlung keine Zeit verspielen will, weil Du schon so lange mit der Sache zu tun hast“, ließ Rita sich nicht aus der Reserve locken. „Ich kann das schon verstehen. Das ist ja nun kein kleiner Husten mehr…“
Mein Vater hatte den Kopf noch immer ihr zugewandt. Sein Blick fiel enttäuscht auf die Tischplatte zurück. Noch einmal sah er Rita an, nur kurz. Dann drehte er den Kopf weg und starrte geradeaus ins Nichts. Er nickte stumm mit dem Kopf und presste die Lippen aufeinander. – Wollte nur einfach keine Ruhe einkehren in seinem Kopf? Oder wähnte er sich tatsächlich getäuscht?
Meine Mutter beschäftigte sich aufwändig mit dem Tee, stellte Milch und Zucker auf den Tisch – fragte Rita nicht einmal, wie sie den Tee trinken wolle – hetzte wieder zurück zur Arbeitsplatte, wischte hier einen Tropfen und dort nichts als Sauberkeit ab, griff zu einem Handtuch, das sie gar nicht brauchte, sah wieder nach der Uhr. In dieses hektische Treiben hinein, das meinen Vater so überhaupt nicht erreichte, wandte er sich plötzlich an meine Mutter und fragte: „Packst Du mir ein paar Sachen zusammen? Viel werde ich ja nicht brauchen… für ein paar Tage… so lang die Untersuchungen eben dauern…“
„Ja, Ben, natürlich. Ich mach das gleich noch. Dann können wir morgen früh ganz in Ruhe aufbrechen.“ Sie sagte es ruhig – doch ihre Stimme zitterte. Sie sah ihren Mann nicht an dabei. Sie warf es beiläufig in die Küche. Sie suchte nach Beschäftigung, nach Bewegung, nach themenfremden und gewohnten Abläufen – und fand fahrig hinreichend davon.
Meine Cousine übernachtete in unserem Gästezimmer. Am nächsten Morgen eine kurze Verabschiedung, ehe ich zur Arbeit fuhr. Ich umarmte Rita und bedauerte herzlich, dass wir nicht wenigstens etwas mehr Zeit füreinander gefunden hatten. Steif verabschiedete ich mich von meiner Mutter. Vollkommen verkrampft und unsicher gab ich auch meinem Vater die Hand. Ich hasste diesen verdammten Kerl. Hundert Mal mochte ich gewünscht haben, er solle verrecken! Aber da jetzt dräuend der Tod über ihm schwebte, obgleich niemand das auszusprechen wagte, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Mochte es glimpflich ausgehen für ihn – damit ich verschont bliebe von diffusen Schuldgefühlen, die mich schon jetzt plagten.
Mit versteinerter Mine sagte ich, an meinen Vater gerichtet – seine Hand in meiner, Auge in Auge: „Alles Gute.“ Man sagt das so! Ich empfand nichts dabei. Mit einem schiefen Lächeln nahm er es zur Kenntnis. „Wird schon schief gehen“, betupfte er das eigene Nervenkostüm mit nichts als ungeweihtem Wasser, wo ihm Betäubungs- mittel fehlte. Vielleicht musste er in diesem Moment seine Nerven beruhigen, weil er spürte, dass der Faden gerissen war zwischen ihm und seinem Sohn. Welcher Vater tritt schon gerne ab, wenn er sich eingestehen muss, dass er am Ende nichts erreicht hat, als den eigenen Sohn zu verlieren?
Ich ging hinaus, ließ die Haustür hinter mir zufallen, schwang mich aufs Rad… und spürte nichts. Nichts als Härte. Nichts als Kälte. Nichts als Abscheu. – Nichts als Erwartungshaltungen, die mich quälten. Erwartungshaltungen, die mich drängten, meinen Vater zu herzen… in Gedanken, Worten und Werken. Nach allem, was gesche- hen war? Nach allem, was er niemals würde wahr haben wollen?
Früh fuhren Rita und meine Eltern nach Köln-Merheim. Rita fuhr. Mit Vaters Auto!
In der Klinik führte man meinen Vater auf ein Zwei-Bett-Zimmer, lies ihm nur ein wenig Zeit, sich mit den paar Habseligkeiten einzurichten, die er mitgebracht hatte, und trieb ihn noch am selben Tage durch mehrere Untersuchungen.
Als meine Cousine und meine Mutter die Klinik verließen, sprachen die zwei kaum ein Wort miteinander. Für Rita waren solche Situationen ein Teil der Arbeits- routine – und sie verstand es, sich auf die Bedürfnisse meiner Mutter einzustellen. Ein Bedürfnis meiner Mutter war die Flucht: Sie machte das Tempo, hackte mit eiligen Schritten über die Flure, Treppen hinunter, hinaus und zum Parkplatz hin. Sie wollte nicht, sie konnte nicht sprechen.
Dann sprangen die beiden ins Auto. Plaff… plaff… schlug jede ihre Wagentüre zu. Rita wollte gerade den Zündschlüssel ins Schloss stecken, da schnappte meine Mutter nach ihrer rechten Hand. Rita sah ihre Hand an, dann zu meiner Mutter hin: Die starrte auf die eigene Hand, wie sie verkrampft die Hand einer jungen Frau umklammerte, von der sie sicheren Halt erhoffte – oder wenigstens einen Rettungsring in den unwirsch tobenden Wellen einer stürmischen See.
Ungezählte Sekunden lang. Dann warf sie ruckartig den Kopf zu Rita hin – die Augen gerötet, die Tränen stumm, kurz vor dem Überlaufen. “Sag endlich“, flehte sie. Ein Speichelfaden spann sich von einer Lippe zur anderen, die Mundwinkel waren feucht: Da waren die anderen Tränen, in ihrem nassen Mund. Dann warf sie die Stirn in Falten: „Bi-tteee! Was weißt Du?“
Rita blieb stumm. Sie stritt mit der Wahrheit, die es gab – und der Qual, die sie meiner Mutter zumuten würde. Sie sah weg von meiner Mutter, durch die Windschutzscheibe hindurch, als stünde dort ein Text zum Ablesen. Gedanken verloren las sie: „Die Blutwerte sind erschreckend.“ Pause. Dann wandte sie sich wieder meiner Mutter zu und legte noch ihre linke Hand hinzu, wo meine Mutter verkrampft die rechte Hand meiner Cousine hielt. Auge in Auge, forderte meine Mutter eine Antwort – Rita rang sich durch zur Wahrheit: „Onkel Ben wird die Klinik nicht lebend verlassen!“
Die stumme Mutter verstummte. Ihre Unterlippe zuckte ein wenig. Die Tränen schossen tonlos aus ihren Augen, perlten an ihren Wangen hinunter und fielen in den bodenlosen Abgrund dieser Botschaft. Ihr Atem ging tief und heftig. Plötzlich presste sie die Lippen verbissen aufeinander und wandte sich ruckartig von meiner Cousine ab. Genauso ruckartig riss sie ihre linke Hand an sich, schnappte nach ihrer eigenen rechten und verkrampfte ihre zwei Hände miteinander. Sie vergrub dieses Knäuel ihrer eigenen Hände zwischen ihren Oberschenkeln und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, während unentwegt und in vollkommener Lautlosigkeit die Tränen weiter spülten.
Dann befahl sie mit vorwurfsvollem Unterton: „Fahr endlich los!“
Meine Mutter kam mit dem Zug zurück nach Hause. Den Austin hatte sie Rita in Köln zurück gelassen. Rita hatte versprochen, jeden Tag mindestens einmal bei meinem Vater vorbei und nach dem Rechten zu schauen. So wusste meine Mutter ihren Mann wenigstens rundherum gut umsorgt. So gut es eben ging.
Kaum eine Woche später lagen alle Untersuchungsergebnisse vor und ließen keinen Zweifel mehr. Beim nächsten Besuch schenkte der Oberarzt meiner Mutter reinen Wein ein: „Die Lunge ist am stärksten und akut betroffen… deshalb ist Ihr Mann hier schon gut aufgehoben. Aber… die Metastasen haben in den ganzen Körper gestreut. Eine Behandlung wäre nur eine sinnlose Qual für ihren Mann.“ Schockstarr und mit offenem Mund nahm meine Mutter das Todesurteil zur Kenntnis, das soeben über ihren Mann ausgesprochen worden war.
Ruckartig wandte meine Mutter sich von dem Arzt ab und schaute nirgendwo hin – nur bloß nicht Auge in Auge mit diesem Arzt. Die Worte des Arztes hingen im Raum wie beißender Rauch. Der Rauch trieb meiner Mutter die Tränen in die Augen. Sie rang um Fassung – worin sie gut war! Ihre Fassungslosigkeit vermochte sie dieses Mal nicht so gut zu verbergen.
„Und…“ stammelte sie, „es gibt keine Hoffnung?“
„Entschuldigen Sie…“ der Arzt schüttelte verneinend den Kopf. „Es hätte keinen Zweck, Ihnen Hoffnung zu machen. Glauben Sie mir: Wir haben das hier mit mehreren Spezialisten wieder und wieder erwogen. Wir haben verschiedene Therapieansätze diskutiert… Es müsste schon mit einem Wunder zugehen…“
„Ja?“ horchte meine Mutter auf und starrte drängend den Arzt an. „Also: Etwas können Sie tun?! Sie können ihn doch nicht einfach so aufgeben!“
„Bii-tte!“ flehte der Arzt nun seinerseits. „So seien Sie doch vernünftig! Solche Wunder haben wir hier noch nicht erlebt! Nicht, wenn der Krebs so weit fortge- schritten ist! Wenn die Metastasen im Körper so gestreut haben!“
Meine Mutter starrte wie erstickt den Arzt nur an. Sie klebte mit ihren verheulten Augen an seinen Lippen. Sie sagte nichts. Sie weinte tonlos.
Der Arzt schüttelte zaghaft mit dem Kopf. „Es tut mir Leid. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen gern etwas anderes sagen… Bitte! Ersparen Sie Ihrem Mann das! Wenn es eine realistische Chance gäbe… Aber er litte aussichtslos! Es ist nur noch eine Frage der Zeit! … und Ihr Mann hat nicht mehr viel Zeit.“
Später war einmal die Rede von „einer weiteren“ Operation. Also mussten die Ärzte ihn wohl doch irgendwann an der Lunge notoperiert haben. Vielleicht wäre er ja andernfalls sogleich elend verreckt. Woher nahm er noch diese Kraft, dass er sich noch immer mit der ihm eigenen Brachialgewalt dem Tod entgegen stemmte? Hielt er grimmig oder trotzig den Sensenmann zum Narren? Hatten die Ärzte meinem Vater auch reinen Wein eingeschenkt? Meine Mutter hatte es gewiss nicht getan. Klammerte er sich gar als Einziger noch an so etwas wie Hoffnung?
So ging ein paar Wochen lang die sieche Zeit ins Land. Meine Mutter besuchte ihren Mann auch zwei, drei mal „unter der Woche“ – für mehr reichte ihre Zeit nicht, wie es schien. Und natürlich besuchte sie ihn am Wochenende. Immer wieder machte meine Mutter Andeutungen, warf mir spitze Bemerkungen zu, schoss ihre Giftpfeile ab. Schließlich drängte sie mich ohne Umschweife, meinen Vater noch einmal zu besuchen. „Und bitte: Nimm Hanna und auch Julia mit! Das hat er nicht verdient, dass er so von uns gehen muss…“
Ich gab meinen Widerstand auf. Ich gab auf.
Vielleicht hatte sie Recht – so rein objektiv betrachtet. Aber mich quälte und folterte, was mir nun bevorstand.
Wenige Wochen waren es, die mir drückend lang erschienen waren, zäh hinge- zogen, die an meinen Nerven gerissen hatten. Verwandte, Freunde, Bekannte, Kollegen, Chefs… alle und ein jeder fragten, tief betroffen, geradezu bestürzt: „Mensch… Fin!“ Die Hand kurz vor den Mund geschlagen, oder die Hand zum Gruß gereicht, tief hinunter gedrückt und nicht geschüttelt, sondern nur klamm gehalten. Die Gesichtszüge düster, die Mundwinkel schlaff: „Wie geht es denn Deinem Vater?!“ und „Jaaah, ich hab gehört… !“ und „Ach? Aber nicht in Aachen?“ und „Ja, und bitte: Bestell Deinem Vater meine herzlichen Genesungswünsche! Mensch, Gott, nein. Wie… furchtbar!“
Ich wollte nichts „bestellen“, wollte keine Grüße ausrichten. Die Betroffenheit musste ich spielen – die ich nicht spürte. Ich spürte nicht, wie schlimm es meinem Vater ging. Ich spürte nicht, dass das tragisch für uns sei.
Ich beobachtete meine Mutter, ohne sie zu verstehen, wie sie immer nur niederge- schlagen und traurig und in einer unerklärlichen Eile war. Als könne sie Lebenszeit für meinen Vater sparen, wenn sie eiliger durch die Wohnung wirbelte, wenn sie gehetzt aß, schneller zu Bett hüpfte – und, wahrscheinlich, stundenlang wach dalag und im lichtlosen Zimmer hektisch unter die schwarze Zimmerdecke starrte.
Ich spürte nur, wie schlimm es war, unterstellt zu bekommen, dass es schlimm sei – und wie schlimm es war, mustergültig die gewichtige Nebenrolle zu spielen: wieder nur den Mustersohn.
Ein unbändiger Zorn fraß in mir und nährt nur noch mehr meinen Hass gegen meinen Vater: Für kaum drei Monate seines Friedens hatte mein Vater ultima- tiv die Entscheidung über Browny oder über unseren Auszug eingefordert. Einmal mehr verabscheute ich mich selbst und hasste meinen Vater dafür, das ich Browny geopfert hatte für einen so geringfügigen Frieden. Einmal mehr verabscheute ich mich selbst dafür, dass mir in bloßer Angst vor dem Vater und überstürzt nichts Besseres eingefallen war.
Wenn es erst vorüber wäre, würde alles leichter für uns werden. Dieses ewig in unserem Hause schwärende Gebrüll, von dem man nie wusste, wann es ausbrechen würde – und von dem man oft nicht einmal nachvollziehen konnte, weshalb es ausgebrochen war. Scham grämte mich ob meiner Erleichterung – und war doch erleichtert in der Gewissheit, dass er nicht mehr wiederkehren würde.
Wenn es erst vorüber wäre, würde vieles leichter werden. Der Hass gegen meinen Vater, der in mir loderte und immer wütender in mir riss, würde endlich erlöschen – so war ich mir sicher. Der Hass, der es mir verbot, ihn auch nur einmal zu besuchen, würde friedlich verstummen können. Wenn er nur endlich und ganz plötzlich sterben würde, damit die Genesungswünsche verstummen würden, die man mir wieder und wieder ins Gepäck lud. Und damit das subtile Drängen meiner Mutter endlich enden würde.
Wenn es erst vorüber wäre, würde eines nicht leichter werden: Die Sehnsucht, vom eigenen Vater endlich und einmal vorbehaltlos angenommen zu sein, so wie ich bin – und vor allem endlich angenommen zu sein als das, was ich war: sein Sohn! Das wiederum quälte mich daran: Dass mein Vater so plötzlich fort musste und ganz sicher nie mehr wiederkommen würde. Das quälte mich an dem Tod meines Vaters, den er nicht zu erbringen bereit war: Das Bewusstsein, nein, die Ahnung, dass diese Sehnsucht nicht verstummen würde, sondern qualvoll ersticken in der zähen, schlammigen Unmöglichkeit, je in Erfüllung zu gehen.
Und plötzlich drängte meine Mutter nicht mehr subtil, sondern forderte kategorisch ein. Ich sah mich schon ihm gegenüber stehen… Was sollte ich sagen, wie mich benehmen? Dem siechen Koloss gegenüber? Ihm meine Sehnsucht gestehen? Er hätte es mit einem dummen Scherz abgetan. Ihm meinen Hass gestehen? Er hätte es als pubertäre Dummheit, als dreistes Hirngespinst abgewehrt. Er hätte nur wieder einen Grund mehr, mich nicht ernst zu nehmen.
Sollte ich mich mit gespielter und verlogener Herzlichkeit nach seinem Befinden erkundigen? Die ehrliche Antwort, die er nicht geben würde, war uns allen ohnehin bekannt. Die unehrliche Antwort brauchte niemand von uns.
Ich wünschte meinem Vater mit Resten inneren Anstandes nicht den Tod an den Hals – aber sein Tod kam mir nicht ungelegen. Weshalb musste meine Mutter das nun von mir verlangen? Es reichte schon, dass ich immer häufiger an meinen Vater denken musste, wenn ich – wann auch immer, wo auch immer – mir eine Zigarette ansteckte: Ich war Kettenraucher wie mein Vater! Der nun mit Lungenkrebs und voller Metastasen im nicht mehr behandelbaren Endstadium Reste von Lebensfunktionen nutzte, um nicht mehr wirklich zu leben, aber noch immer präsent zu bleiben. – Das Rauchen war nur so ein Denkmal, aber gar nicht der eigentliche Grund, weshalb sich mir mein Vater in Gedanken immer stärker aufdrängte…
Ich diskutierte mit meiner Mutter nicht einmal mehr darüber: Ich wusste, dass der Anstand es verlangte. Wahrscheinlich würde meine Mutter es mir auch nie verzeihen, wenn ich ihr diesen Wunsch – auch wenn es auf ihre Weise ein Befehl war – ausgeschlagen hätte.
An dem verdammt heißen ersten Sonntag im August 1974 bretterten wir also alle gemeinsam nach Köln-Merheim. Und die einzige, der es gelang, mit dieser Reise so wirklich ganz unbedarft, unvoreingenommen und locker umzugehen, war wohl Julia, noch keine sieben Monate alt.
In der Klinik angekommen, wurden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass Hanna mit Julia draußen bleiben musste: Der Zutritt war Personen unter sechszehn Jahren nicht gestattet. Und meine Mutter wollte schon beginnen, nach Lösungen zu suchen, damit wenigstens Hanna dann einmal kurz ihren Schwiegervater besuchen könne. Selbst die Legitimität ihres Herzenswunsches wog sie ab: Ob die Schwestern denn nicht eine Ausnahme würden arrangieren können… Hanna winkte ab: „Lass, Mutter! Lass! Ich geh so lange in den Park. Es hat bestimmt seine Gründe, dass die Kleine nicht mit hinein kann…“
Anmerken ließ Hanna sich nichts. Aber ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass Hanna erleichtert war, die Konfrontation mit dem siechen Tyrannen zu verpassen. Noch viel zu klar schwang der Satz mir nach wie ein Echo, den Hanna mir grell an den Kopf geworfen hatte: „Wenn es nach mir ginge, dann zögen wir hier sofort aus!“ Wie sehr ich Hanna auch ihr leichtfüßiges und freundliches Arrangement mit meinem Vater vorgeworfen hatte – am Ende musste ich mir eingestehen, dass sie sich durch dieses Arrangement hindurchgequält hatte, weil die Umstände es erforderten… Oder: Weil die Umstände mit angenehmen Vorteilen lockten. Und so sah Hanna sich in der einen oder anderen Weise genötigt, gedrängt, bittersüß gelockt, wann immer mein Vater renovierte und herrichtete, das unverwüstliche Arbeitstier und Kampfschwein bei Laune zu halten.
Als wir meinen Vater aufsuchten, als ich durch die Tür trat, blieb ich einen Moment erschrocken im Rahmen stehen, ehe ich mir einen Ruck gab: Da lag die Unver- wüstlichkeit zu Bett, von Kissen hoch getützt, blass, ausgemergelt, verschlaucht, verkabelt, aus verschiedenen Flaschen heraus im Leben gehalten. Seine Gesichtszüge waren nicht mehr von der wütenden Kraft der ewigen Unzufriedenheit nach unten gezogen – sondern ergaben sich der bloßen Schwerkraft. Es hätte mich zufrieden stimmen können, meinen Vater bedingungslos friedfertig vorzufinden. Stattdessen schockierte es mich, wie lapidar und unerbittlich das Leben diesen Koloss in kürzester Zeit niedermachte zu nichts als einem Wrack. Es schockierte mich, wie schamlos das Leben diesen Kerl nicht einmal mehr am edel glänzenden, seidenen Faden hängen hatte. Sondern wie das Leben ihn da am matten, grau angelaufenen Leinenfaden, achtlos aus einem ranzigen Leichentuch gezupft, mit makabrer Beiläufigkeit über dem Reich der Toten baumeln ließ.
[…]